Die Vergangenheit entsteht im Jetzt
Die Vergangenheit entsteht im Jetzt – und wir können beeinflussen, wie wir sie erleben
Wir sprechen oft so über die Vergangenheit, als wäre sie ein fixer, unveränderlicher Teil unseres Lebens. Doch in Wahrheit wird Vergangenheit immer nur in dem Moment lebendig, in dem wir an sie denken.
Erinnerungen sind keine exakten Aufzeichnungen, sondern Rekonstruktionen, die unser Gehirn jedes Mal neu zusammensetzt. Dieser Prozess wird stark von unserer Stimmung, unserer Energie, unseren Erfahrungen und unseren inneren Einstellungen beeinflusst.
Studien zeigen, dass ein bedeutender Teil unserer Erinnerungen nicht exakt so gespeichert ist, wie wir glauben. Zwischen 20–30 % der Menschen entwickeln im Labor falsche oder verfälschte Erinnerungen – und selbst echte Erinnerungen verändern sich mit der Zeit. Das zeigt: Wir erinnern keine objektive Vergangenheit, sondern eine von uns konstruierte Version davon.
Erlebnisse sind mehrdimensional
Jedes Erlebnis hat viele Ebenen:
Fakten, Gefühle, Körperempfindungen, Kontext, Interpretation, unausgesprochene Bedürfnisse und Schlussfolgerungen.
Aber unser Gehirn speichert nie alle Dimensionen gleichzeitig. Es wählt aus – oft jene, die zu unserem damaligen Selbstbild, unserer Stimmung oder unserem Schutzbedürfnis passten. Wenn wir später auf dieselbe Situation zurückblicken, erinnern wir sie nicht als vollständige Realität, sondern als Ausschnitt.
Diese Mehrdimensionalität ist kein Problem – sie ist ein Hinweis darauf, dass jede Erinnerung verschiedene Perspektiven enthält, die wir entdecken und nutzen können.
Warum wir dieselbe Vergangenheit unterschiedlich spüren
Es gibt Tage, an denen sich eine alte Erinnerung leicht und versöhnlich anfühlt.
Und andere Tage, an denen sie schwerer oder verletzlicher wirkt.
Nicht die Vergangenheit hat sich verändert – wir haben uns verändert.
Unser innerer Zustand entscheidet, welcher Ausschnitt der Erinnerung hervorgehoben wird.
Psychologisch spricht man von „stimmungskongruentem Erinnern“:
Wir erinnern das, was zu unserer aktuellen Stimmung passt.
Die Erinnerung selbst ist flexibel – das Erleben entsteht im gegenwärtigen Moment.
Alles findet im Jetzt statt
Psychologisch wie philosophisch ist eines klar:
✨Der gegenwärtige Moment ist die einzige Realität, die wir direkt erleben können.
Vergangenheit existiert nur als Erinnerung – ein Gedanke jetzt.
Zukunft existiert nur als Vorstellung – ebenfalls jetzt.
Unser Gehirn arbeitet immer im Jetzt: Es konstruiert, rekonstruiert, bewertet und ergänzt.
Damit wird deutlich:
Alles, was nicht dieser Moment ist, entsteht in unserem Geist.
Die Vergangenheit ist ein geistiger Raum.
Die Zukunft eine geistige Projektion.
Nur die aktuelle Erfahrung ist unmittelbar real.
Diese Erkenntnis entwertet Vergangenheit und Zukunft nicht – sie öffnet lediglich die Tür zu neuer innerer Freiheit.
Wir können lernen, Erlebnisse anders zu betrachten
Wenn Vergangenheit eine Konstruktion ist, sind wir ihr nicht ausgeliefert.
Wir können lernen, sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten:
aus der Perspektive unseres heutigen Wissens,
mit mehr Mitgefühl für unser damaliges Ich,
unter Einbezug von Aspekten, die wir früher ausgeblendet haben,
oder aus einer Haltung von Stärke statt von Ohnmacht.
Das bedeutet nicht, Schmerz zu verdrängen oder etwas schönzureden. Es bedeutet, die ganze Mehrdimensionalität eines Erlebnisses zuzugestehen und Zugang zu neuen Bedeutungen zu finden.
Tools & Methoden, die dabei helfen
✨ Achtsamkeit
Sie bringt uns bewusst in den gegenwärtigen Moment und schafft inneren Raum, um Gedanken und Erinnerungen zu beobachten, statt automatisch in ihnen gefangen zu sein.
✨ Reframing (kognitive Neubewertung)
Wir können lernen, die Bedeutung eines Ereignisses zu verändern – nicht indem wir etwas leugnen, sondern indem wir es im Lichte unserer heutigen Ressourcen neu betrachten.
✨ Imagery Rescripting
Eine therapeutische Technik, die belastende Erinnerungen neu inszeniert und mit Ressourcen anreichert. Sie hilft besonders, alte emotionale Ladungen zu lösen.
✨ Narrative Methoden / Lebensgeschichten-Arbeit
Indem wir unsere Geschichte bewusst erzählen oder aufschreiben, erkennen wir Muster, geben Struktur und finden neue Perspektiven darauf, wer wir sind und wer wir werden wollen.
✨ Selbstmitgefühl
Eine der kraftvollsten Fähigkeiten:
Die damalige Version von uns mit Freundlichkeit und Verständnis zu sehen, statt mit Härte und Kritik.
✨ Journaling
Schreiben macht innere Prozesse sichtbar. Es zeigt uns, wo wir stehen – und welche Perspektive wir einnehmen möchten.
✨ Therapeutische Begleitung
Bei sehr belastenden oder traumatischen Erinnerungen kann professionelle Unterstützung entscheidend sein, um Erlebnisse sicher und nachhaltig umzudeuten.
Die stille Freiheit des Jetzt
Der jetzige Moment ist der einzige Ort, an dem wir fühlen, wahrnehmen, entscheiden und heilen können.
Nicht in der Vergangenheit – dort können wir nichts mehr tun.
Nicht in der Zukunft – sie ist noch nicht da.
Alles, was wir verändern können, geschieht hier.
Alles, was wir integrieren möchten, geschieht jetzt.
Und alles, was wir erkennen, vergeben oder neu betrachten wollen, geschieht in diesem Moment.
Die Vergangenheit ist nicht starr.
Sie ist wandelbar, vielschichtig und offen für neue Perspektiven – genau wie wir.
In diesem Erkennen liegt eine tiefe, leise Freiheit.